Warum nicht das Viele teilen?

Holzlarer Zeitzeugin über Flucht und Zuflucht

Ihr achtzigster Geburtstag war der Anlass für den Besuch von Pfarrer Kalhöfer bei Inge Wintjes zuhause.
Im Gespräch über ihr Leben kam sie schnell auf die Kindheit im Krieg zu sprechen. „Ich habe eigentlich nicht mehr so viel daran gedacht, aber je älter ich werde, desto mehr holen mich die Ereignisse ein,” sagt sie.
Der Pfarrer fragt die Jubilarin, ob sie bereit wäre, ein Interview zum Thema „Flucht – Zuflucht“ zu führen und über ihre Erfahrungen zu berichten.
Obwohl sie selbst kein Flüchtling war, willigt sie doch ein über diese Zeit zu sprechen.

Und so kommt es, dass ich mit meinem Sohn Marlon in den ersten Januartagen bei ihr vor der Tür stehe.
Wir werden der blinden Dame schon bei Betreten des Grundstücks mit Hundegebell angekündigt. Schnell beruhigt sich der treue Dackel als er merkt, dass wir in guter Absicht kommen und von seinem Frauchen willkommen geheißen werden.

Flucht oder Übersiedlung?

Als die eigentlich fröhliche Rheinländerin von ihrer Kindheit im Krieg berichtet, bekommt sie einen ernsten Gesichtsausdruck. Im Alter von vier bis zehn Jahren hat sie den Krieg erlebt. Zunächst lebte ihre Familie im Ruhrgebiet. Als aber die Bombardierungen dort immer heftiger wurden, ist sie mit  ihrer Mutter zu deren   Familie in Hückeswagen im Bergischen Land gegangen. Hier gab es zwar wenig zu essen und nur bescheidenen Platz zu leben, aber zumindest keine Bombenangriffe mehr.
Auf die Frage von Marlon, ob diese Übersiedlung denn nicht eigentlich auch eine Flucht gewesen sei, antwortet sie: „Nein, das habe ich eigentlich so nicht gesehen. Meine Mutter war die jüngste von zehn Kindern und ihre ganze Familie lebte in Hückeswagen. Sie ist mit mir dorthin gegangen,  weil es dort sicherer war.“ Obwohl sie mit einem Karren auf zwei Rädern ihre Habseligkeiten zum nächsten noch intakten, kilometerweit entfernten Bahnhof bringen mussten, sieht sie dies nicht als Flucht an. Schließlich war alles geplant und man ging zur Familie.

Ihr geschiedener Ehemann allerdings sei als Kind aus dem Sudetengau mit seiner Familie geflohen, erzählt sie weiter. Sie seien  vertrieben worden und hätten auf dem Weg zu ihrem endgültigen Zielort im Zug im Bahnhof von Dresden die schlimme Bombardierung der Stadt miterleben müssen. Er und vor allem ihre Schwiegereltern hätten oft über die  Heimat und die Flucht gesprochen.

Sie selbst hat in Hückeswagen erlebt, dass Flüchtlinge in dem Haus, in dem sie mit ihrer Mutter lebte, unterge- bracht wurden. In diesem Einfamilienhaus wohnte ursprünglich ein Lehrer mit seiner Frau zur Miete. Ihre  Mutterhatte dort zwei kleine Zimmer für sie beide mieten können. Außerdem bewohnte dort noch eine ältere Frau ein Zimmer. Dann wurden noch weitere Bewohner zwangszugewiesen.
„Die erste Familie war schrecklich. Die sind einfach in unser Zimmer gekommen und haben Teller und Tassen geholt, ohne zu fragen und als die Mutter sich beschwerte, haben sie sie geschlagen. Die waren aber nicht lange da, denn sie wurden später aus der Stadt ausgewiesen, weil sie auch sonst noch soeiniges angestellt hatten.“

Dann kam eine sehr nette Familie aus Lodz. Die Eltern, zwei Kinder und der Opa bewohnten gemeinsam ein großes Zimmer. „Das war eine richtig nette Wohngemeinschaft in diesem Haus,“ erinnert sie sich. Man musste zusam- menrücken. Das taten nicht alle gerne. Wildfremde Menschen zwangsweise in einzelnen Zimmern des eigenen Hau- ses oder der Wohnung aufzunehmen, war nicht immer leicht, musste aber in dieser Zeit einfach sein.

Obwohl die Flüchtlinge aus ihrer Beobachtung nicht immer freundlich aufgenommen wurden und einige wenige sich auch wirklich daneben benahmen, glaubt Inge Wintjes, dass die Flüchtlinge damals eigentlich noch besser dran waren, als die Flüchtlinge, die heute aus anderen Ländern nach Deutschland kommen.
Ihre anderen Gebräuche, Hautfarben und Religionen verursachen teilweise Angst und Unbehagen bei uns, die leider bis zur aktiven Fremdenfeindlichkeit reichen können.
„Die damaligen Vertriebenen und Geflohenen kamen im Gegensatz zu den heutigen Flüchtlingen aus dem deutschen Kulturkreis. „Wenn ich höre, dass Asylantenheime angegriffen werden, macht mich das traurig. Menschen, die Schreckliches in ihrer Heimat erlebt haben, ihr Zuhause und ihr Hab und Gut zurücklassen mussten, auf abenteuerlichen Wegen zu uns kommen, werden hier schlecht behandelt und man zündet Häuser an, in denen sie leben sollen. Das kann doch nicht wahr sein!“

Ich liebe Multikulti

„Ich selbst liebe Multikulti“, erklärt uns die Achtzigjährige fröhlich.
„Stellen sie sich mal vor, wie langweilig Deutschland wäre, wenn hier nur Deutsche lebten.“ 35 Jahre hat sie im Bonner Auswärtigen Amt gearbeitet und hatte schon von Berufswegen immer mit Menschen unterschiedlicher Kulturen zu tun.
Man sieht ihr an, dass das eine erfüllte Zeit in ihrem Leben war. „Wissen Sie, ich war nicht immer blind. Ich bin erst mit 35 Jahren erblindet und habe vieles in der Welt gesehen.
“ Ein besonderes Verhältnis hat sie zu Ecuador. „Ein schönes Land, mit leider sehr armen Menschen, die teilweise nicht genügend zu essen haben.“
Sie berichtet von einem jungen Mann, der ihr im Haus hin und wieder zur Hand ging und der, wie sich herausstellte, illegal in Deutschland war und deshalb immer Angst hatte, entdeckt und zurückgeschickt zu werden. „Ein Wirtschaftsflüchtling würde man wohl sagen.“ Dieser junge Mann tat ihr so leid, dass sie ihn adop- tierte. Ihr leiblicher Sohn hat durch ihn seine heutige Frau kennengelernt, so ist ihre Schweigertochter Ekuadorianerin.
Die rüstige Dame würde am liebsten auch jetzt wieder aktiv eingreifen.
„Man muss sich eigentlich schämen,“ meint sie. „Ich bewohne alleine ein so großes Haus, sitze im Warmen und Trockenen, habe satt zu essen und alles, was ich brauche, und die Flüchtlinge müssen in Notunterkünften, teil- weise, trotz der Minusgrade, in Zelten leben.“
In WDR 5 hat sie einen Bericht gehört über einen 9-jährigen Jungen, dessen Eltern gestorben sind und der nur mit seinem Lieblingshuhn im Arm in der Türkei in einem Aufnahmelager ankam.
Dieses Bild, diesesSchicksal hat sie so angerührt, dass sie am liebsten diesen Jungen sofort zu sich geholt hätte. Aus eigener Erfahrung weiß sie schließlich, dass traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit Menschen für das ganze Leben prägen.
„Und Kinder sind doch wehrlos und unschuldig,“ fügt sie hinzu.
Auch habe sie überlegt, eine Flüchtlingsfamilie bei sich aufzunehmen, aber sie traue sich nicht, weil sie blind sei. Sie betont, dass das aber nichts mit der Tatsache zu tun habe, dass es sich um Ausländer handele. Sie habe vor einiger Zeit überlegt, an einen Studenten oder eine Studentin unterzuvermieten, aber auch das habe sie sich wegen ihrer Blindheit nicht getraut.

Wir müssen Menschen auf der Flucht Zuflucht gewähren

Inge Wintjes kann aufgrund ihrer eigenen Geschichte sehr gut verstehen, wie es Menschen auf der Flucht gehen muss, welch schreckliches Erlebnis es sein muss, alles zurück lassen zu müssen, um das nackte Überleben zu sichern. Sie versteht nicht, wie jemand auf die Idee kommen kann, ein reiches Land wie unseres könne diesen Menschen Zuflucht verweigern.
„Damals ging es allen schlecht und man musste das Wenige, dass man hatte, teilen. Wieso können wir heute nicht das Viele, das wir haben, teilen?“

Marlon und Martina Brüßel                                                              zurück zum Menü NACHGEDACHT

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