Gottes Kinder auf der Flucht

Geschichten von Wanderung, Trennung und Bewahrung in der Bibel

Nach einer Legende, die das Matthäus Evangelium erzählt, fliehen Josef und Maria mit ihrem neugeborenen Sohn Jesus von Bethlehem nach Ägypten, um den Nachstellungen des Königs Herodes zu entgehen (Matthäus 2,13 23).

Sie folgen damit der Weisung eines Boten Gottes, der dem Josef zuvor im Traum erschienen war.
Erst nach dem Tod des Gewaltherrschers,  der die Konkurrenz eines jungen „Königs der Juden“ aus Davids Stamm fürchtet, wagen sie es, erneut aufgrund einer Traumvision, nach Israel zurückzukehren.
Von den biblischen Verheißungen her, die schon zuvor im Evangelium über Jesus ausgesprochen sind, wird das Geschehen als von Gott veranlasste Bewahrung des verheißenen Retters von Kind auf verständlich.

Jesus als Tagelöhner

Gewiss, das ist eine Legende, die eher eine Wahrheit zur Anschauung bringen will als eine geschichtliche Wirklichkeit. Immerhin kann man, auch aufgrund späterer jüdischer Quellen, erwägen, dass Jesus (als Erwachsener) eine Zeitlang als Tagelöhner tatsächlich in Ägypten gearbeitet hat; sicher ist das aber nicht.

In dem Text aus Matthäus 2 wollen uns die Nachstellungen des Gewaltherrschers und das Stichwort „Ägypten“ jedenfalls deutlich an die Geschichte des Mose erinnern, die in der Bibel im Buch Exodus erzählt wird:
Mose – wiewohl Migrant, ein Günstling des Pharaos – muss aus Ägypten fliehen, nachdem er, um einem hebräischen Landsmann zu Hilfe zu kommen, einen Ägypter erschlagen hat.
Im Nachbarland Midian findet er Zuflucht bei dem Priester eines fremden Glaubens. Mose nimmt eine der Priestertöchter zur Frau, wird Vater eines Sohnes, wird sesshaft.
Dennoch vergisst er die Schwestern und Brüder seines Volkes nicht; denn im fremden Land beruft ihn der Gott der Vorväter in einer Offenbarung zum Befreier Israels.
Erst nach dem Tod des Pharao kann er nach Ägypten zurückkehren und dort tatsächlich zum Anführer seines Volkes werden.

Aus dieser Geschichte klingen die Worte Exodus 4,19f. in Matthäus 2,19f.  deutlich nach.
Was für den einen das Land der Bedrängnis ist – Ägypten –, ist  für den anderen Zuflucht und  Rettung.
Es kommt auf die Perspektive an.

Flucht vor dem Hunger

Auch andere Geschichten kommen in den Sinn: So zieht Jakob mit seinen Söhnen nach Ägypten, um der Hungersnot im Heimatland zu entfliehen.
Dort in Ägypten kommt es völlig unerwartet zur Wiederbegegnung und zuletzt zur Versöhnung mit dem tot geglaubten, in Wahrheit von den Brüdern in Sklaverei und Fremde verkauften geliebten Sohn Josef (Genesis 46).

Jakobs eigene Lebensgeschichte ist schon bis dahin geprägt von Wanderung, Trennung, Verfolgung und Flucht, und sie reicht zurück bis zum Aufbruch seines Vaters Abraham aus Ur in Chaldäa.
Der jüdische Religionsphilosoph Philo, der im ersten Jahrhundert nach Christus in Alexandrien in Ägypten lebte, hat diese biblischen Geschichten von Flucht und Wiederbegegnung in einem kleinen Buch philosophisch-psycho logisch interpretiert und so auch den gebildeten Zeitgenossen erschlossen, die mit den alten Legenden sonst wenig anfangen konnten.

Flucht und Bewahrung

Näher als eine philosophisch psychologische Auslegung liegt es aber, in diesen Erzählungen die uralte und immer wieder neue  Erfahrung der Menschen von Flucht, Vertreibung und gnädiger Bewahrung zu hören.
Was in ausgezeichneten Gestalten wie Abraham, Jakob, Mose oder Jesus bunt ausgemalt wird, ist im erfahrungs- und traditionsgesättigten Gedächtnis aller gespeichert.
Auch das Ur und Gründungsgeschehen Israels ist eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Bewahrung:
der Auszug aus Ägypten durch das Schilfmeer in die Wüste, zur Begegnung mit Gott.
Solche Erfahrungen verdichten sich für Israel in einem Bekenntnis, das noch beim Opfergottesdienst am Jerusalemer Tempel gesprochen werden soll:
„Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk“ (Deuteronomium 26,5; alle Zitate nach der Luther-Übersetzung 1984).
Wie unsere Vorfahren, so sagt der Text, sind wir Nomaden;
Bleiben Können, Ruhe, Sicherheit und Wohlstand sind nie von Dauer.
Doch das bedeutet nicht, dass Gott uns verlassen hat, er zieht mit.
Auch wer einen festen Wohnsitz hat, in Frieden und Wohlstand lebt, wer meint, im „gelobten Land“ seines Lebens „angekommen“ zu sein, kann und soll dieses Bekenntnis mitsprechen, in Erinnerung an das, was man von Eltern und Großeltern gehört hat und was sich tief ins gemeinsame Gedächtnis eingegraben hat.

Mose teilt das Meer– Kinderbibeltag in Holzlar2012

Fremdlinge lieben

Und so fordert die Tora: „Darum sollt ihr auch (wie Gott) die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“ (Deuteronomium 10,19).
Und von daher ist vielleicht auch zu verstehen, warum die großen geschichtlichen Katastrophen, die das Volk Israel betroffen haben, die Jahrhunderte von Ausgrenzung, Exil und Verfolgung bis hin zur Schoah, das Bekenntnis zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht haben verstummen lassen.

Die ersten Jesus-Anhänger trugen diese Erfahrung in ihren Herzen oder lasen sie in ihrer Bibel, als sie der Botschaft von der mit dem Auftreten Jesu anbrechenden freundlichen Herrschaft Gottes auf Erden Glauben schenkten.

Wenn sie später die Geschichte Jesu und seiner Jünger weiter erzählten, wenn sie von ihren eigenen Erfahrungen als Überbringer der frohen Boschaft sprachen, verbanden sie dies mit den jahrhundertealten Erfahrungen des Volkes Israel. Ihren eigenen Glauben konnten sie einfach „den Weg“ nennen, und die alten und neuen Erfahrungen konnten sie in dem Satz aussprechen, dass wir alle hier keine „bleibende Stadt“ (Hebräer 13,14) haben.
Die Hoffnung richtet sich dann auf eine Zuflucht und Ruhe bei Gott, die von den Wechselfällen von Natur und Geschichte nicht mehr berührt ist, auf einen beständigen, sicheren und ewigen Platz zum Leben.
Man muss nur hinhören auf die eigenen Erinnerungen und Sehnsüchte, oder den Erzählungen der Vorfahren nachgehen, um die Not und das Hoffen der „Fremdlinge“, die unsere Nachbarn sind, zu verstehen und sie gastfreundlich und herzlich aufzunehmen.

Helmut Löhr                                                                                 zurück zum Menü NACHGEDACHT

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