Nachgedacht über ...

... sind Gotteshäuser Zufluchtsorte?

von Rolf Kalhöfer
Menschen auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Terror, vertrieben aus ihren Häusern und Wohnungen.
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... Leben im Übergangswohnheim

von Sascha Decker
Wie der "Runde Tisch" in Hangelar Flüchtlingen hilft...
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... Warum nicht das Viele teilen?

von Marlon und Martina Brüßel
Holzlarer Zeitzeugin über Flucht und Zu-Flucht...
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... Gottes Kinder auf der Flucht

von Helmut Löhr
Geschichten von Wanderung, Trennung und Bewahrung in der Bibel
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... Gottes Geist, öffne die Herzen der Welt...

von Thomas Engels
Gedanken zu Pfingsten
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... meine Gaben

von Rolf Kalhöfer
„Du kannst es schaffen. Ich traue dir etwas zu.“

So spricht Gott zu uns, der uns geschaffen hat mit unseren Möglichkeiten und Grenzen.
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... wie nimmt Jesus uns an?

von Sascha Decker
Unser Verhalten, unser Umgang mit anderen soll sich also an seinem Verhalten orientieren. Doch wie genau nimmt Jesus uns an?
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... einander annehmen

von Virág Magyar
Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.

Römer 15,7
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...des Kindes Glück

von Rolf Kalhöfer
Und Jesus sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne....
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Gotteshäuser Zufluchtsorte?

Rolf Kalhöfer

Menschen auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Terror, vertrieben aus ihren Häusern und Wohnungen.
Die Not von Millionen von Menschen, die nicht wissen, wo sie Zuflucht finden, erinnert die Älteren unter uns an ihre leidvollen Erfahrungen vor 70 Jahren:
Alles Hab und Gut verloren, viele von ihnen  wurden mit dem Tod bedroht, Frauen wurden vergewaltigt, Kindern ihre Eltern weggenommen. Traumatische Erlebnisse, die zum Teil bis heute nicht aufgearbeitet sind.

 
Behüte mich
wie einen Augapfel im Auge, beschirme mich unter
dem Schatten deiner Flügel vor den Gottlosen,
die mir Gewalt antun, vor meinen Feinden, die mir von allen Seiten
nach dem Leben trachten. Psalm 17,8f.

In der Bundesrepublik wurde das Leiden der aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen vielfach entweder verschwiegen oder durch revanchistische Kräfte instrumentalisiert.
Ressentiments gegen Menschen, die bei uns heute Zuflucht suchen, rühren zum Teil daher.

In diesen Monaten suchen vor allem Menschen aus Syrien und dem Irak Zuflucht in anderen Ländern, weil sie als Christen, Jesiden oder andersgläubige Moslems aus ihren Heimatländern vertrieben werden.

Wie köstlich
ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!
Psalm 36,8

Viel wird getan, um wenigstens einige zehntausend von ihnen bei uns in Deutschland aufzunehmen. Noch viel mehr wäre nötig.

Aber auch in unserem Land selbst müssen Menschen aus Angst fliehen. Kindern und Frauen, in geringem Umfang auch Männer, wird Gewalt angetan, Kinder werden missbraucht, Frauen geschlagen und vergewaltigt.
Gut, dass es Frauenhäuser gibt, wo sie Zuflucht finden können, wenn auch die Plätze nicht annähernd ausreichen.

Menschen sind auf der Flucht und suchen Zuflucht. Auch die Bibel ist voller Fluchtgeschichten (mehr dazu auf Seite 24).

Den meisten von uns sind solche Fluchterfahrungen erspart geblieben.  Wir  haben  das  (unverdiente) Privileg, in der Heimat leben zu können.
Flucht in einem übertragenen Sinne ist vielen von uns jedoch nicht unbekannt:
Einige von uns laufen weg vor Aufgaben, die angepackt werden müssten, andere fliehen vor sich selbst, indem sie sich beispielsweise mit Medikamenten, Alkohol oder anderen Drogen betäuben.
Wie können wir erkennen, wo wir in diesem Sinne auf der Flucht vor uns selbst sind? Und wie könnte es uns gelingen, umzukehren und uns der Realität zu stellen?

Gotteshäuser waren schon immer Zufluchtsorte.
Die Psalmworte, die hier abgedruckt sind, laden zum Gebet ein, alleine und mit anderen zusammen.
Unsere Kirchen sind Orte, in denen wir spüren können:
Hier bin ich zuhause.

Mögen Sie, liebe Gemeindeglieder, auch in diesem Jahr die Erfahrung machen:
Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.
(Psalm90,1)

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Leben im Übergangswohnheim

Wie der runde Tisch in Hangelar Flüchtlingen hilft

Und plötzlich fließen die Tränen. Nicht bei den Kindern, bei den Erwachsenen.
Papa und Mama müssen weinen, als sie mir die Geschichte ihrer Flucht von Teheran in den Rhein-Sieg Kreis erzählen.
Mustafa* (33) und Mina (28) reiben sich die geröteten Augen, während sich Tochter Mahsa (9) und der kleine einjährige Kasra mit dem großen Zeichenblock beschäftigen.

Wir sitzen in dem kleinen Vereinsraum des Turnverein Hangelar 1962 e.V..
Otto Deibler ist hier der Vorsitzende, er hat uns zusammengebracht. Er macht mit beim Runden Tisch, einer Bürgerinitiative für Flüchtlinge. Und er kümmert sich jetzt um die Kinder, damit die Erwachsenen reden können. Dank einer Übersetzerin gelingt das auf Farsi und Deutsch.

Ein Zimmer für Vier

„Am schwierigsten ist die Enge. Wir teilen uns den Kühlschrank, die Küche und das Bad mit 29 anderen Flüchtlingen. Wenn du nicht aufpasst, sind deine Einkäufe aus dem Kühlschrank weg, bevor du sie verkocht hast. Kasra hat Asthma, aber die anderen nehmen darauf keine Rücksicht und rauchen. Wir müssen dann die Tür zumachen und dann wird es noch enger“, erzählt Mina.
Vielleicht 12 oder 13 Quadratmeter misst das Zimmer, das der vierköpfigen Familie im Übergangswohnheim seit sieben Wochen als Zuhause dient. Hier schlafen und essen sie, hier macht die Neunjährige die Hausaufgaben.

Wir waren nicht mehr sicher

In Teheran hatten sie ein geräumiges Dreizimmer-Appartement, Mustafa hatte einen guten Job in der Industrie, Mina studierte.
Was hat die Fami- lie in die Flucht getrieben, was hat sie zu diesem Schritt ins Ungewisse veranlasst? Warum haben sie den Beruf aufgegeben, Familie und Freunde? Und warum haben sie eines  Tages das Ersparte an Leute gezahlt, die die Flucht organisierten, inklusive Visum und Linienflug über Dubai nach Düsseldorf?
Das war vor rund zehn Wochen.

„Wir waren nicht mehr sicher“, erzählt Mustafa, „nachdem mein Bruder eine Bibel in unserer Wohnung entdeckt hatte. Er ist fanatisch und hat uns sofort an ein Komitee verraten. Die haben meinen Arbeitgeber gesagt, dass ich Christ bin. Und von da an wurde meiner Familie gedroht.
“Wovon sich liberal denkende Muslime andernorts selbstverständlich distanzieren, ist  im Iran immer noch an der Tagesordnung.
Das Land ist seit Jahrzehnten für seine Menschenrechtsverletzungen bekannt. Die radikale Koranauslegung der Mullahs sieht eine Konvertierung zum Christentum nicht vor, der Druck steigt häufig auch in der eigenen Familie bis ins Unerträgliche. Meinungs- und Pressefreiheit gibt es nicht, kritischen Journalisten droht Folter.

Kaum vorstellbar, wie man in einer solchen Umgebung überhaupt an eine Bibel kommt.
Mustafa: „Ein Freund von mir war Christ und hat mir viel davon erzählt. Mich haben die Geschichten gepackt und dann habe ich auch meiner Frau davon erzählt.“ In Hauskreisen traf sich die Familie dann heimlich mit anderen, um über den neuen Glauben zu sprechen.

Wie soll es weitergehen?

Und hier in Deutschland? Wie soll es jetzt weitergehen im Rhein-Sieg- Kreis?
Mahsa geht seit einer Woche in die zweite Klasse. Ein Anfang, auch wenn sie noch kein Wort Deutsch spricht. Mustafa und Mina hoffen auf eine kleine Wohnung, mit den Zahlungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz wird das schwer. Etwas mehr als 1000 Euro  stehen der  Familie im Monat zur Verfügung.
„Das Wichtigste ist ein Sprachkurs, ich möchte gerne so schnell wie möglich Geld verdienen“, sagt Mustafa. Als Ingenieur hätte er wahrscheinlich sogar Chancen. Aber bis dahin wird noch etwas Zeit vergehen.

Paten gesucht

„Die ersten Wochen sind schwer“, sagt Otto Deibler, der sich ehrenamtlich um die Flüchtlinge kümmert. Im Moment ist er jeden Tag im Übergangswohnheim oder mit den Familien unterwegs. Einige besuchen auch schon die Sportgruppen. Um den Flüchtlingsfamilien die ersten Schritte in die deutsche Gesellschaft zu ermöglichen, vermittelt der Runde Tisch in Hangelar Patenschaften.

Christiane Heilen, Ortsvorsteherin in Hangelar: „Es fallen zum Beispiel Behördengänge an, die diese Familien ohne Deutsch kaum bewältigen können. Es geht aber auch um Arztbesuche, wenn einer krank wird.
All das sind mögliche Aufgaben für einen Paten aus der Region.“
Zwölf Personen sind mittlerweile im Runden Tisch organisiert, neben der Ortsvorsteherin und Otto Deibler sind auch die beiden Kirchengemeinden vertreten, weitere Vereine und Vertreter von  Schule und  Kindergarten.
Alle vier bis sechs Wochen treffen sie sich im Gemeindezentrum der Christuskirche oder im Pfarrheim der katholischen Sankt Anna Kirche.

Mustafa, Mina, Mahsa und Kasra und die 25 anderen aus dem Übergangswohnheim werden voraussichtlich nicht die einzigen bleiben. Es sollen zwei weitere Container kommen in den nächsten Monaten. Die engagierten Helfer vom Runden Tisch freuen sich über neue Patinnen und Paten.

*alle Namen geändert.

Wer Interesse hat, kann sich bei den Initiatoren melden. Ausführliche Informationen dazu .....hier

Sascha Decker                                                                                 zurück zum Menü NACHGEDACHT

Warum nicht das Viele teilen?

Holzlarer Zeitzeugin über Flucht und Zuflucht

Ihr achtzigster Geburtstag war der Anlass für den Besuch von Pfarrer Kalhöfer bei Inge Wintjes zuhause.
Im Gespräch über ihr Leben kam sie schnell auf die Kindheit im Krieg zu sprechen. „Ich habe eigentlich nicht mehr so viel daran gedacht, aber je älter ich werde, desto mehr holen mich die Ereignisse ein,” sagt sie.
Der Pfarrer fragt die Jubilarin, ob sie bereit wäre, ein Interview zum Thema „Flucht – Zuflucht“ zu führen und über ihre Erfahrungen zu berichten.
Obwohl sie selbst kein Flüchtling war, willigt sie doch ein über diese Zeit zu sprechen.

Und so kommt es, dass ich mit meinem Sohn Marlon in den ersten Januartagen bei ihr vor der Tür stehe.
Wir werden der blinden Dame schon bei Betreten des Grundstücks mit Hundegebell angekündigt. Schnell beruhigt sich der treue Dackel als er merkt, dass wir in guter Absicht kommen und von seinem Frauchen willkommen geheißen werden.

Flucht oder Übersiedlung?

Als die eigentlich fröhliche Rheinländerin von ihrer Kindheit im Krieg berichtet, bekommt sie einen ernsten Gesichtsausdruck. Im Alter von vier bis zehn Jahren hat sie den Krieg erlebt. Zunächst lebte ihre Familie im Ruhrgebiet. Als aber die Bombardierungen dort immer heftiger wurden, ist sie mit  ihrer Mutter zu deren   Familie in Hückeswagen im Bergischen Land gegangen. Hier gab es zwar wenig zu essen und nur bescheidenen Platz zu leben, aber zumindest keine Bombenangriffe mehr.
Auf die Frage von Marlon, ob diese Übersiedlung denn nicht eigentlich auch eine Flucht gewesen sei, antwortet sie: „Nein, das habe ich eigentlich so nicht gesehen. Meine Mutter war die jüngste von zehn Kindern und ihre ganze Familie lebte in Hückeswagen. Sie ist mit mir dorthin gegangen,  weil es dort sicherer war.“ Obwohl sie mit einem Karren auf zwei Rädern ihre Habseligkeiten zum nächsten noch intakten, kilometerweit entfernten Bahnhof bringen mussten, sieht sie dies nicht als Flucht an. Schließlich war alles geplant und man ging zur Familie.

Ihr geschiedener Ehemann allerdings sei als Kind aus dem Sudetengau mit seiner Familie geflohen, erzählt sie weiter. Sie seien  vertrieben worden und hätten auf dem Weg zu ihrem endgültigen Zielort im Zug im Bahnhof von Dresden die schlimme Bombardierung der Stadt miterleben müssen. Er und vor allem ihre Schwiegereltern hätten oft über die  Heimat und die Flucht gesprochen.

Sie selbst hat in Hückeswagen erlebt, dass Flüchtlinge in dem Haus, in dem sie mit ihrer Mutter lebte, unterge- bracht wurden. In diesem Einfamilienhaus wohnte ursprünglich ein Lehrer mit seiner Frau zur Miete. Ihre  Mutterhatte dort zwei kleine Zimmer für sie beide mieten können. Außerdem bewohnte dort noch eine ältere Frau ein Zimmer. Dann wurden noch weitere Bewohner zwangszugewiesen.
„Die erste Familie war schrecklich. Die sind einfach in unser Zimmer gekommen und haben Teller und Tassen geholt, ohne zu fragen und als die Mutter sich beschwerte, haben sie sie geschlagen. Die waren aber nicht lange da, denn sie wurden später aus der Stadt ausgewiesen, weil sie auch sonst noch soeiniges angestellt hatten.“

Dann kam eine sehr nette Familie aus Lodz. Die Eltern, zwei Kinder und der Opa bewohnten gemeinsam ein großes Zimmer. „Das war eine richtig nette Wohngemeinschaft in diesem Haus,“ erinnert sie sich. Man musste zusam- menrücken. Das taten nicht alle gerne. Wildfremde Menschen zwangsweise in einzelnen Zimmern des eigenen Hau- ses oder der Wohnung aufzunehmen, war nicht immer leicht, musste aber in dieser Zeit einfach sein.

Obwohl die Flüchtlinge aus ihrer Beobachtung nicht immer freundlich aufgenommen wurden und einige wenige sich auch wirklich daneben benahmen, glaubt Inge Wintjes, dass die Flüchtlinge damals eigentlich noch besser dran waren, als die Flüchtlinge, die heute aus anderen Ländern nach Deutschland kommen.
Ihre anderen Gebräuche, Hautfarben und Religionen verursachen teilweise Angst und Unbehagen bei uns, die leider bis zur aktiven Fremdenfeindlichkeit reichen können.
„Die damaligen Vertriebenen und Geflohenen kamen im Gegensatz zu den heutigen Flüchtlingen aus dem deutschen Kulturkreis. „Wenn ich höre, dass Asylantenheime angegriffen werden, macht mich das traurig. Menschen, die Schreckliches in ihrer Heimat erlebt haben, ihr Zuhause und ihr Hab und Gut zurücklassen mussten, auf abenteuerlichen Wegen zu uns kommen, werden hier schlecht behandelt und man zündet Häuser an, in denen sie leben sollen. Das kann doch nicht wahr sein!“

Ich liebe Multikulti

„Ich selbst liebe Multikulti“, erklärt uns die Achtzigjährige fröhlich.
„Stellen sie sich mal vor, wie langweilig Deutschland wäre, wenn hier nur Deutsche lebten.“ 35 Jahre hat sie im Bonner Auswärtigen Amt gearbeitet und hatte schon von Berufswegen immer mit Menschen unterschiedlicher Kulturen zu tun.
Man sieht ihr an, dass das eine erfüllte Zeit in ihrem Leben war. „Wissen Sie, ich war nicht immer blind. Ich bin erst mit 35 Jahren erblindet und habe vieles in der Welt gesehen.
“ Ein besonderes Verhältnis hat sie zu Ecuador. „Ein schönes Land, mit leider sehr armen Menschen, die teilweise nicht genügend zu essen haben.“
Sie berichtet von einem jungen Mann, der ihr im Haus hin und wieder zur Hand ging und der, wie sich herausstellte, illegal in Deutschland war und deshalb immer Angst hatte, entdeckt und zurückgeschickt zu werden. „Ein Wirtschaftsflüchtling würde man wohl sagen.“ Dieser junge Mann tat ihr so leid, dass sie ihn adop- tierte. Ihr leiblicher Sohn hat durch ihn seine heutige Frau kennengelernt, so ist ihre Schweigertochter Ekuadorianerin.
Die rüstige Dame würde am liebsten auch jetzt wieder aktiv eingreifen.
„Man muss sich eigentlich schämen,“ meint sie. „Ich bewohne alleine ein so großes Haus, sitze im Warmen und Trockenen, habe satt zu essen und alles, was ich brauche, und die Flüchtlinge müssen in Notunterkünften, teil- weise, trotz der Minusgrade, in Zelten leben.“
In WDR 5 hat sie einen Bericht gehört über einen 9-jährigen Jungen, dessen Eltern gestorben sind und der nur mit seinem Lieblingshuhn im Arm in der Türkei in einem Aufnahmelager ankam.
Dieses Bild, diesesSchicksal hat sie so angerührt, dass sie am liebsten diesen Jungen sofort zu sich geholt hätte. Aus eigener Erfahrung weiß sie schließlich, dass traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit Menschen für das ganze Leben prägen.
„Und Kinder sind doch wehrlos und unschuldig,“ fügt sie hinzu.
Auch habe sie überlegt, eine Flüchtlingsfamilie bei sich aufzunehmen, aber sie traue sich nicht, weil sie blind sei. Sie betont, dass das aber nichts mit der Tatsache zu tun habe, dass es sich um Ausländer handele. Sie habe vor einiger Zeit überlegt, an einen Studenten oder eine Studentin unterzuvermieten, aber auch das habe sie sich wegen ihrer Blindheit nicht getraut.

Wir müssen Menschen auf der Flucht Zuflucht gewähren

Inge Wintjes kann aufgrund ihrer eigenen Geschichte sehr gut verstehen, wie es Menschen auf der Flucht gehen muss, welch schreckliches Erlebnis es sein muss, alles zurück lassen zu müssen, um das nackte Überleben zu sichern. Sie versteht nicht, wie jemand auf die Idee kommen kann, ein reiches Land wie unseres könne diesen Menschen Zuflucht verweigern.
„Damals ging es allen schlecht und man musste das Wenige, dass man hatte, teilen. Wieso können wir heute nicht das Viele, das wir haben, teilen?“

Marlon und Martina Brüßel                                                              zurück zum Menü NACHGEDACHT

Gottes Kinder auf der Flucht

Geschichten von Wanderung, Trennung und Bewahrung in der Bibel

Nach einer Legende, die das Matthäus Evangelium erzählt, fliehen Josef und Maria mit ihrem neugeborenen Sohn Jesus von Bethlehem nach Ägypten, um den Nachstellungen des Königs Herodes zu entgehen (Matthäus 2,13 23).

Sie folgen damit der Weisung eines Boten Gottes, der dem Josef zuvor im Traum erschienen war.
Erst nach dem Tod des Gewaltherrschers,  der die Konkurrenz eines jungen „Königs der Juden“ aus Davids Stamm fürchtet, wagen sie es, erneut aufgrund einer Traumvision, nach Israel zurückzukehren.
Von den biblischen Verheißungen her, die schon zuvor im Evangelium über Jesus ausgesprochen sind, wird das Geschehen als von Gott veranlasste Bewahrung des verheißenen Retters von Kind auf verständlich.

Jesus als Tagelöhner

Gewiss, das ist eine Legende, die eher eine Wahrheit zur Anschauung bringen will als eine geschichtliche Wirklichkeit. Immerhin kann man, auch aufgrund späterer jüdischer Quellen, erwägen, dass Jesus (als Erwachsener) eine Zeitlang als Tagelöhner tatsächlich in Ägypten gearbeitet hat; sicher ist das aber nicht.

In dem Text aus Matthäus 2 wollen uns die Nachstellungen des Gewaltherrschers und das Stichwort „Ägypten“ jedenfalls deutlich an die Geschichte des Mose erinnern, die in der Bibel im Buch Exodus erzählt wird:
Mose – wiewohl Migrant, ein Günstling des Pharaos – muss aus Ägypten fliehen, nachdem er, um einem hebräischen Landsmann zu Hilfe zu kommen, einen Ägypter erschlagen hat.
Im Nachbarland Midian findet er Zuflucht bei dem Priester eines fremden Glaubens. Mose nimmt eine der Priestertöchter zur Frau, wird Vater eines Sohnes, wird sesshaft.
Dennoch vergisst er die Schwestern und Brüder seines Volkes nicht; denn im fremden Land beruft ihn der Gott der Vorväter in einer Offenbarung zum Befreier Israels.
Erst nach dem Tod des Pharao kann er nach Ägypten zurückkehren und dort tatsächlich zum Anführer seines Volkes werden.

Aus dieser Geschichte klingen die Worte Exodus 4,19f. in Matthäus 2,19f.  deutlich nach.
Was für den einen das Land der Bedrängnis ist – Ägypten –, ist  für den anderen Zuflucht und  Rettung.
Es kommt auf die Perspektive an.

Flucht vor dem Hunger

Auch andere Geschichten kommen in den Sinn: So zieht Jakob mit seinen Söhnen nach Ägypten, um der Hungersnot im Heimatland zu entfliehen.
Dort in Ägypten kommt es völlig unerwartet zur Wiederbegegnung und zuletzt zur Versöhnung mit dem tot geglaubten, in Wahrheit von den Brüdern in Sklaverei und Fremde verkauften geliebten Sohn Josef (Genesis 46).

Jakobs eigene Lebensgeschichte ist schon bis dahin geprägt von Wanderung, Trennung, Verfolgung und Flucht, und sie reicht zurück bis zum Aufbruch seines Vaters Abraham aus Ur in Chaldäa.
Der jüdische Religionsphilosoph Philo, der im ersten Jahrhundert nach Christus in Alexandrien in Ägypten lebte, hat diese biblischen Geschichten von Flucht und Wiederbegegnung in einem kleinen Buch philosophisch-psycho logisch interpretiert und so auch den gebildeten Zeitgenossen erschlossen, die mit den alten Legenden sonst wenig anfangen konnten.

Flucht und Bewahrung

Näher als eine philosophisch psychologische Auslegung liegt es aber, in diesen Erzählungen die uralte und immer wieder neue  Erfahrung der Menschen von Flucht, Vertreibung und gnädiger Bewahrung zu hören.
Was in ausgezeichneten Gestalten wie Abraham, Jakob, Mose oder Jesus bunt ausgemalt wird, ist im erfahrungs- und traditionsgesättigten Gedächtnis aller gespeichert.
Auch das Ur und Gründungsgeschehen Israels ist eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Bewahrung:
der Auszug aus Ägypten durch das Schilfmeer in die Wüste, zur Begegnung mit Gott.
Solche Erfahrungen verdichten sich für Israel in einem Bekenntnis, das noch beim Opfergottesdienst am Jerusalemer Tempel gesprochen werden soll:
„Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk“ (Deuteronomium 26,5; alle Zitate nach der Luther-Übersetzung 1984).
Wie unsere Vorfahren, so sagt der Text, sind wir Nomaden;
Bleiben Können, Ruhe, Sicherheit und Wohlstand sind nie von Dauer.
Doch das bedeutet nicht, dass Gott uns verlassen hat, er zieht mit.
Auch wer einen festen Wohnsitz hat, in Frieden und Wohlstand lebt, wer meint, im „gelobten Land“ seines Lebens „angekommen“ zu sein, kann und soll dieses Bekenntnis mitsprechen, in Erinnerung an das, was man von Eltern und Großeltern gehört hat und was sich tief ins gemeinsame Gedächtnis eingegraben hat.

Mose teilt das Meer– Kinderbibeltag in Holzlar2012

Fremdlinge lieben

Und so fordert die Tora: „Darum sollt ihr auch (wie Gott) die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“ (Deuteronomium 10,19).
Und von daher ist vielleicht auch zu verstehen, warum die großen geschichtlichen Katastrophen, die das Volk Israel betroffen haben, die Jahrhunderte von Ausgrenzung, Exil und Verfolgung bis hin zur Schoah, das Bekenntnis zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht haben verstummen lassen.

Die ersten Jesus-Anhänger trugen diese Erfahrung in ihren Herzen oder lasen sie in ihrer Bibel, als sie der Botschaft von der mit dem Auftreten Jesu anbrechenden freundlichen Herrschaft Gottes auf Erden Glauben schenkten.

Wenn sie später die Geschichte Jesu und seiner Jünger weiter erzählten, wenn sie von ihren eigenen Erfahrungen als Überbringer der frohen Boschaft sprachen, verbanden sie dies mit den jahrhundertealten Erfahrungen des Volkes Israel. Ihren eigenen Glauben konnten sie einfach „den Weg“ nennen, und die alten und neuen Erfahrungen konnten sie in dem Satz aussprechen, dass wir alle hier keine „bleibende Stadt“ (Hebräer 13,14) haben.
Die Hoffnung richtet sich dann auf eine Zuflucht und Ruhe bei Gott, die von den Wechselfällen von Natur und Geschichte nicht mehr berührt ist, auf einen beständigen, sicheren und ewigen Platz zum Leben.
Man muss nur hinhören auf die eigenen Erinnerungen und Sehnsüchte, oder den Erzählungen der Vorfahren nachgehen, um die Not und das Hoffen der „Fremdlinge“, die unsere Nachbarn sind, zu verstehen und sie gastfreundlich und herzlich aufzunehmen.

Helmut Löhr                                                                                 zurück zum Menü NACHGEDACHT

Gottes Geist, öffne die Herzen der Welt..

...und öffne unseren Mund, davon zu schwärmen.

Pfingsten, das besondere Fest, Pfingsten, das Fest der Kommunikation.
Gottes Geist ist uns gegeben, Gottes Geist führt dazu, dass Menschen sich verstehen.

Wenn wir das Pfingstfest so sehen würden (oder sehen könnten), dann stünde es wahrscheinlich nicht mehr so im Schatten der anderen hohen Feiertage. Zu Weihnachten feiern wir die Wiederkehr der Geburt Jesu, in der Passionszeit erinnern wir uns an Jesu Leidensweg und zu Ostern – dem höchsten Fest – geht es um die Auferstehung Jesu von den Toten. Feste, die die meisten von uns mit konkreten Inhalten füllen können, auch wenn sie manchmal anderen gegenüber schwer zu erklären sind.
Was aber ist (mit) Pfingsten? Es muss doch wohl mehr sein als ein verlängertes Wochenende kurz nach Ostern. Wie ist die Bedeutung dieses Festes in unserem Leben, in unserem Alltag zu erklären? Wie so oft kann hier ein Blick in die Bibel uns ein Stück weiterbringen. Ein für mich besonders spannender Text steht in der Apostelgeschichte im 2. Kapitel:

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschie- nen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. ... Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? ... wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden. Sie entsetzten sich aber alle und wurden ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll von süßem Wein. Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, liebe Männer und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen! Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage; sondern das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: „Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.“

Was macht das Treffen – 50 Tage nach Ostern – so besonders? Schließlich sind es doch dieselben Personen, die zusam- men sind, mit ihren Erfahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten. Das Besondere beschreibt Lukas mit „dem Brausen vom Himmel“. Das ist schwer vorstellbar für jeden, der nicht dabei gewesen ist. Deshalb wird es auch noch einmal etwas genauer erklärt: „wie von einem gewaltigen Wind“. Das muss in der Tat ein gewaltiger Wind gewesen sein, der Menschen von Grund auf verändern kann. Plötzlich sind die, die bisher eher zaghaft, teils sogar antriebslos waren, in Fahrt geraten. Die Apostel kannten Jesus, wussten von seinem Leiden und seiner Kreuzigung, von seinem Tod und seiner Auferstehung und dennoch waren sie zunächst verschüchtert, ängstlich und kraftlos – sie konnten nicht auf andere zugehen und ihren Glauben weitererzählen.

Das bedurfte der Kraft Gottes. Sein Geist hat ihnen nicht nur Kraft, sondern auch den nötigen Mut gegeben, mit Feuer und Flamme Jesu Geschichte an Mann und Frau zu bringen.

Durch den Geist Gottes angespornt, konnten sie die Botschaft des Glaubens überbringen, unabhängig davon, welche Sprache sie sprachen oder in welcher Sprache die anderen zu hören imstande waren. Welch ein Wunder, andere hörten ihnen zu, glaubten ihnen das Gesagte und haben sich dann auch noch auf diesen Glauben eingelassen.

Wäre es nicht schön, wenn wir durch Gottes Geist gestärkt für unseren Glauben, für Frieden und Gerechtigkeit und für etwas Demut eintreten und öffentlich werden könnten. Gerade heute hat daher Pfingsten verdient, aus dem Schatten der anderen hohen Feste herauszutreten.

Mit Gottes Geist ist das möglich.

Thomas Engels                                                                                           zurück zum Menü NACHGEDACHT

Ein Blumenstrauß voller Begabungen

Rolf Kalhöfer

Was sind meine Gaben?

Da hat sich Alexandra zum Klavierunterricht angemeldet und kommt nach ein paar Wochen frustriert nach  Hause:„Warum mache ich das nur? Ich lerne das nie!“
Wütend schmeißt sie ihre Notentasche in die Ecke.
Julian soll ein Referat in der Uni halten. Er möchte am liebsten zuhause bleiben. Die Vorstellung, vor hundert Menschen reden zu müssen, ist ihm ein Graus. Und immer wieder muss er an den Satz eines seiner Lehrer denken: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Du wirst mal viel Gold besitzen, Julian.“

Es ist schmerzlich, an seine Grenzen zu stoßen.
Und es ist noch schmerzlicher, sie von anderen bestätigt zu bekommen. Aber das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Immer wieder erreichen wir die Grenze dessen, was uns möglich ist, erleben Scheitern und Versagen, fühlen uns klein und unfähig oder werden klein und unfähig gemacht.
Dadurch verstellen wir uns selbst oder verstellen uns andere einen fairen Blick auf unsere Möglichkeiten und Grenzen.

Wer vor allem hört:
„Das kannst du nicht!“ statt „Das kannst du!“, glaubt es irgendwann auch selbst. Menschen werden verunsichert und trauen sich selbst nur noch wenig zu.

Wie gut tun uns Menschen, die sagen:
„Du kannst es schaffen. Ich traue dir etwas zu.“
So spricht Gott zu uns, der uns geschaffen hat mit unseren Möglichkeiten und Grenzen.

Da betreibt jemand, so las ich, ein kleines Bistro-Café in München, ein bisschen altmodisch sieht er aus, wie in einem alten französischen Film. Früher hat er Jura studiert. „Es hat lange gebraucht, bis ich gemerkt habe: das ist eigentlich nichts für dich“, erzählt er.
„In meiner Freizeit habe ich hier immer gekellnert. Das war mein Ding. Und als mein Vorgänger aufgehört hat, habe ich zugegriffen. Meine Eltern hätten mich lieber in einer Anwaltskanzlei gesehen. Aber dafür war ich einfach nicht geschaffen. Das Leben ist doch viel zu kurz, um es mit Dingen zu verplempern, die man nicht richtig kann und auch nicht tun will.“

Wir alle sind Menschen, denen Gott mindestens eine Begabung geschenkt hat. So kommen in einer Gemeinschaft, auch in unseren Kirchengemeinden, ganz verschiedene Gaben und Talente zusammen, so verschieden, wie wir Menschen eben sind.
Jede und jeder kann etwas einbringen, was andere brauchen, z.B. ihr Einfühlungsvermögen, ihren Erfindungsreichtum, seine Spontaneität, sein Lachen, ihre Verschwiegenheit, ihre Hilfsbereitschaft, seine Geduld.
Sie kennen alle solche von Gott begabten Menschen. Denken Sie an Ihren Partner oder Ihre Partnerin, an Ihre Kinder, an Ihre Freundinnen und Freunde. Und Sie selbst sind auch begabt!

Alexandra hat vielleicht einige Zeit später gemerkt: „Ich kann das Klavierspielen ja doch lernen.“ Oder sie ist zu der Erkenntnis gelangt, dass ihre Stärken auf einem anderen Gebiet liegen.
Julian hat inzwischen Spaß daran, vor großen Gruppen zu sprechen, er ist immer noch aufgeregt, aber er weiß, dass ihm seine Stimme nicht versagt und dass die Kommilitonen ihm gerne zuhören.

„Dient einander,ein jeder mit der Gabe,
die er empfangen hat, als die guten Haushalter
der mancherlei Gnade Gottes.“ (1. Petrusbrief 4,10)

Nun sagt der Verfasser des 1. Petrusbriefes aber nicht nur, dass wir alle mit guten Gaben von Gott beschenkt sind. Gleichzeitig werden wir auch ermahnt, unsere Gaben einzusetzen für die Gemeinschaft. „einander zu dienen“, wie es im Text heißt. Denn dass wir erkennen, wozu wir befähigt sind, soll nun nicht nur unser Selbstbewusstsein stärken, sondern soll auch anderen zugutekommen.

Niemand lebt nur für sich allein. Jesus sagt in Lukas 12,48: „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.“

Nur indem viele ihre Begabungen einbringen, auch in unseren Kirchengemeinden, entsteht ein lebendiges Geben und Nehmen. Die Gemeinde als Blumenstrauß der  Begabungen.
Ich bin sicher, da gibt es über dem Vielen, was schon da ist, noch mehr zu entdecken. Ermutigen wir uns gegenseitig, unsere Gaben zu entdecken und einzubringen – zum Wohle anderer und zur Ehre Gottes!

Rolf Kalhöfer                                                                                 zurück zum Menü NACHGEDACHT

Wie nimmt Jesus uns an?

„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.“ So die Jahreslosung aus dem Römerbrief.
Unser Verhalten, unser Umgang mit anderen soll sich also an seinem Verhalten orientieren. Doch wie genau nimmt Jesus uns an?
Es gibt eine Geschichte aus seinem Leben, die viel darüber verrät.

Es ist die Erzählung von seiner Begegnung mit der Ehebrecherin im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Die Ehebrecherin war auf frischer Tat ertappt worden und sollte gesteinigt werden. Jesus hält den Anklägern entgegen: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Niemand wirft, einer nach dem anderen zieht ab. Schließlich sind nur noch die beiden übrig, die Ehebrecherin und Jesus.

Malen wir die Szene ein wenig aus, weil der Text nur sehr wenig Details gibt.
Weiß die Frau, mit wem sie es hier zu tun hat? In jedem Fall wird sie große Dankbarkeit darüber empfunden haben, soeben aus Todesgefahr gerettet worden zu sein.
Und möglicherweise war sie auch verwirrt. Wie ist das möglich, dass dieser Mann eine ganze aufgebrachte Menge in Schach hält – und das nur mit einem einzigen Satz?
Ist das gerade wirklich passiert? „Wo sind sie alle hin?
Hat dich keiner verdammt?“ fragt Jesus. „Niemand, Herr!“ „So verdamme ich dich auch nicht. Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“

Eine erklärungsbedürftige Ansage Jesu.
Ist es für die Frau überhaupt möglich, nicht mehr zu sündigen? Jesus hatte doch gerade erst die dramatische Situation dadurch entschärft, dass er den Anklägern den Spiegel vorgehalten hatte: Wer von euch ist ohne Sünde?
Das heißt doch mit anderen Worten: Jeder Mensch sündigt, es geht nicht anders. Und nun gibt er der Ehebrecherin genau diese Worte mit. Ein Widerspruch?

Nein, kein Widerspruch. Aber die Annahme Jesu ist nichts, was sich nur auf einer Seite beschreiben lässt. Gottes Freispruch und unser Mitwirken gehören zusammen.
Sein Ja zu uns will unser Ja zu ihm und seinem Gebot. Seine Annahme will uns in Bewegung setzen. Und so erfährt die Ehebrecherin eine Art neuer Geburt an diesem Tag.
Sie darf leben, weil er sie aus Todesgefahr gerettet hat.
Diese Dankbarkeit im Herzen wird ihr Leben verändern.
Sascha Decker                                                                                        zurück zum Menü NACHGEDACHT

Einander annehmen

Virág Magyar

Nehmt Euch aneinder an, wie Christus
euch angenommen hat zu Gottes Lob
Römer 15,7

Eine ganze Weile schon trage ich eine Postkarte mit mir herum – mit ihr ist mir die Jahreslosung zum ersten Mal begegnet und seither ringe ich mit diesem Bibelspruch, versuche bei ihm anzukommen, ihn mit meinem Alltag in Einklang zu bringen.
Das Bild ist schön: Zwei Hände reichen einander rote Herzen vor einem strahlend blauen Himmel.
„Gutes Bild für eine Liebeserklärung oder eine Verlobungsanzeige“ – denke ich mir – „aber für dieses ‚Einander-annehmen‘?
Das ist ja nicht so einfach. Gewiss nicht so wolkenlos.“ Und doch hole ich die herzige Karte immer wieder hervor; das Bild und den Satz – „Nehmt einander an,wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ – sie lassen mich nicht los, beschäftigen mich, ziehen mich immer wieder in ihren Bann.

Ich schaue in den wolkenverhangenen Novemberhimmel und denke mir: „Es ist schon schwer, einander so zu nehmen, wie wir sind. Schließlich haben wir alle unsere Fehler und Schwächen …
und wenn ich ehrlich bin, dann haben wir doch diese besondere Gabe, den Fehler gleich zu finden.
Das Gute dagegen, da müssen wir ganz genau hinschauen, manchmal erst suchen.“
Dann, wie von Engelshand, ziehen die Wolken beiseite, die Sonne kommt durch, und ich merke, die Geschichte fängt doch ganz anders an: damit, dass Christus uns zuerst angenommen hat.

Weihnachten steht vor der Tür – und so beginnt die Geschichte der großen Annahme Gottes für uns Menschen: mit zwei Menschen, die sich auf den Weg machen, ins Ungewisse, nichts, als Gottes Zusage im Gepäck und dem Kind, das ihnen geboren werden soll.
Wo sie eine Herberge finden werden? Wie die Reise dann weitergeht? Wie Gott seine Verheißungen in erlebte Realität verwandeln würde?
Sie wissen es nicht, die beiden, Maria und Josef. Und doch machen sie sich auf den Weg – einen Weg des Vertrauens und der Geduld, einen zuweilen anstrengenden, beschwerlichen Weg; ergreifen die Annahme Gottes.
Was ihnen auf dem Weg begegnet? Einerseits könnten wir die Beschwernisse und die Gefahr aufzählen – aber viel wichtiger ist die Bewahrung, die Engel, die Helfer, das Gute, ja, die vielen Gaben, die sie unterwegs antreffen. Ein Segen.

Und bei uns? Unsere Wege sind anders – vielleicht nicht so abenteuerlich, und doch haben auch wir die Zusage von Gottes Liebe bekommen und auch wir brauchen Vertrauen und Geduld, damit wir nicht die Defizite, sondern den Segen sehen. Auch in unserem Gegenüber. Denn wir sind gesegnet – mit vielen Begabungen.
Wir haben Menschen unter uns, die sich für andere einsetzen, die in Not geraten sind, Menschen, die tatkräftig der Armut entgegentreten und für Bildung sorgen, Menschen mit künstlerischen Fähigkeiten, die uns alle bereichern, Menschen, die ein offenes Ohr haben, Freude am Glauben und Menschen, die leise im Hintergrund für gute Ordnungen in unseren Gemeinden sorgen. Die Gaben sind so vielfältig, dass sie wohl kaum aufzuzählen sind – jede und jeder von uns hat etwas, was er und sie in die Gemeinschaft einbringen kann.
Wo das passiert, dort wächst Segen. Wo wir uns vertrauensvoll auf die Verheißung Gottes einlassen, dass Er gute Wege mit uns – einzeln und als Gemeinschaft – gehen will, da werden wir merken:
Er ist bei uns. Auf allen Wegen. Auf den beschwerlichen und den freudigen. In dieser Gewissheit wollenwir in das neue Jahr 2015 gehen:
Einander mit den Gaben und den Hürden annehmen – als Gottes besonderes Geschenk. Da ist Segen drin.

Virág Magyar                                                                                       zurück zum Menü NACHGEDACHT

... des Kindes Glück

Rolf Kalhöfer

Und Jesus sprach:  Ein Mensch hatte zwei Söhne.

Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater:
Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie.
Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen.
Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm.
Da ging er in sich und sprach:
Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen:
Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater.
Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.
Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!
Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. (Lukas 15,11-24)

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Die Erzählung vom wiedergefundenen Sohn ist eine zu Herzen gehende Familiengeschichte, ein Beispiel für eine gelungene Versöhnung, ein Gleichnis für Gottes große Barmherzigkeit.
Aber sie ist noch mehr: Sie ist eine Anleitung für uns, wie wir Gott erfahren können in unserer Wirklichkeit........

1. Der Vater muss loslassen.
Wir wissen nicht, ob der jüngere Sohn im Streit gegangen ist, ob der Vater ihn halten wollte oder ob er ihn in Frieden hat ziehen lassen. Aber in jedem Fall muss er lernen loszulassen, muss erkennen und anerkennen, dass sein Sohn nicht Teil seines Besitzes ist, sondern ein Gegenüber mit eigenen Willen und dem Recht, sein Leben in die Hand zu nehmen. In diesem Loslassen ist Gott als der erfahrbar, der dem Vater hilft, seinen Sohn seinen Weg gehen zu lassen.

2. Der jüngere Sohn muss sich entscheiden:
Bleibt er im sicheren Hafen der Familie, die ihn schützt und trägt, die ihm Annehmlichkeiten verschafft, weil sich Diener und Dienerinnen all- zeit um sein Wohl sorgen? Oder geht er hinaus in die Welt, auf sich alleingestellt, mit Herausforderungen konfrontiert, die er noch nicht abschätzen kann? In diesem Konflikt ist Gott er- fahrbar als der, der dem Sohn hilft, eine Entscheidung zu fällen und dazu zu stehen.

3. Der jüngere Sohn stürzt sich in das Leben,
Gott ist vergessen. Die Verführungen des Geldes haben ihn im Griff, er genießt das Leben in vollen Zügen, er erfreut sich an der Vielzahl der (angeblichen) Freunde, die sich um ihn scharen. Umso tiefer ist sein Fall, als das Geld verprasst ist. Nun meldet sich sein Gewissen, er bereut sein Tun. In dieser Reue ist Gott erfahrbar als der, der vergibt, der das Tun des Sohnes nicht gutheißt, aber der neue Schritte ins Leben zurück ermöglichen will.

4. Wer kennt sie nicht, diese wundervolle Szene,
in der der Vater dem Sohn entgegenläuft und ihn umarmt. Der Sohn kann es gar nicht fassen, dass er die Liebe seines Vaters zu ihm nie verloren hat, er spürt: Hier bin ich willkommen mit all meinen Stärken und Schwächen. In dieser bedingungslosen Liebe ist Gott erfahrbar. Diese Liebe setzt eine neue Lebensperspektive frei, der Sohn erlebt Auferstehung zum Leben hautnah. Gott kommt uns nahe – nicht nur im Kind in der Krippe an Weihnachten. Sondern auch immer dann, wenn wir an Wendepunkten unseres Lebens stehen, die bedeutsam sind für unsere Zukunft.

Gott spricht zu uns, wenn wir bereit sind, auf ihn zu hören: im Wort der Heiligen Schrift, in unserem Gewissen, in der Stimme unseres Herzens.
Die vor uns liegende Advents- und Weihnachtszeit könnte zu einer Zeit werden, in der wir Gott wieder neu wahrnehmen.

Rolf Kalhöfer                                                                                                 zurück zum Menü NACHGEDACHT